Donnerstag, 9. Dezember 2010

Menschenfeind oder Messias ?

Schaut man sich die Biografie von Julian Assange an, so begründet sie beides. Einige Psychologen werden belegen, dass man mit einer solchen, von mütterlichem Verfolgungswahn geprägten Jugend nicht normal (werden) sein kann und zwangsläufig seiner Umwelt misstrauisch und feindlich gegenüberstehen muss.
Andere Psychologen stimmen zwar mit dem ersten Punkt überein und schließen ebenfalls eine normale Sozialentwicklung aus. Für sie bedeutet ‘normal‘ aber eher ‚durchschnittlich‘. Und den Unterschied erkennen sie darin, dass sie die Behauptung der ersteren Begutachter, dass eine eher asozialen Prägung vorliegt, verneinen und gegenteilig durch das ständige Erfahren von Unrecht – unabhängig ob es nur empfunden wurde oder real war – einen hoch entwickelten Sinn für Ehrlichkeit und Gerechtigkeit, mithin für hochsoziale Werte, erkennen wollen.
Nun, um die Quintessenz vorweg zu nehmen, wie in den meisten Fällen dürfte die Wahrheit in der Mitte liegen.

Nach dem Kantschen Dogma ist Unwahrheit immer unmoralisch und niemals gerechtfertigt. Im Gegenschluss ist somit Wahrheit immer rein und schuldlos. Ist sie immer soziales Gebot.
Nun hat Assange auf seiner Internetplattform Wikileaks ja nicht die Unwahrheit, sondern gerade die Wahrheit veröffentlicht. Er hat damit bloßgestellt, dass viele Politiker von erheblichem Einfluss auf die Geschehnisse der Welt und die Schicksale ihrer Bürger schlicht die Unwahrheit gesagt und geschrieben haben, um damit (eigennützige) Ziele zu verfolgen, zu denen sie sich wiederum weigern, sie offen zu erklären.
Im Kantschen Sinne ist Assange ein Held, der unter hohem persönlichem Risiko der Wahrheit dient und die Entmündigung der Bürger bekämpft.

Nun war Kant auch zu seiner Zeit nicht unumstritten, denn außer der Wahrheit gibt es natürlich andere Güter mit gleich hohem Sozialanspruch. Zum Beispiel der Sozialfriede, sei es im privatem, im nationalem oder im internationalem Raum.
Ist es z.B. moralischer, jemandem, der ansonsten ein glückliches Leben führt, die Wahrheit zu sagen, wenn es deren Konsequenz ist, dass er anschließend Selbstmord begehen wird, Amok laufen wird oder einen Krieg anzettelt?
Ich kann hier nicht dem Kantschen Imperativ zustimmen. Notlügen müssen erlaubt bleiben, weil die Wahrheit in machen Fällen ausschließlich negative Folgen hat, die Unwahrheit jedoch keinen negativen, ja keinerlei Einfluss hat, also die Situation nicht verschlechtert. Das gilt für den privaten Bereich als auch für die politische Ebene.

Aber was ist nun eine Notlüge? Ist es Notlüge, wenn Georg Bush jun. dem Irak vorwirft, chemische und atomare Waffen für einen Angriff gegen Israel zu produzieren und hiermit einen eigenen Angriffskrieg begründet, obwohl er von seinem Geheimdienst genaustens weiß, dass seine Vorwürfe nicht wahr sind?
Nein, solche Lügen gehören aufgedeckt, denn sie halten keine Übel fern, sondern sie produzieren es. Wer behauptet, die Aufdeckung von Verbrechen gegen die Menschlichkeit seien illegitim, weil sie Unruhe verursacht, verkennt die Lage, dass nicht der Überbringer einer schlechten Botschaft der Bösewicht ist, sondern diejenige, der die so veröffentlichte Tat begangen hat. Kein Mensch käme auf die Idee, die Personen, die die Menschenrechtsverletzungen der Nazis erforscht, veröffentlicht und zur Anklage gebracht haben, als Verbrecher zu bezeichnen, weil sie die Verbrechen aufgeklärt haben, um den Opfern ihre Würde wiederzugeben und die Verbrecher nicht ungestraft davon kommen zu lassen, wodurch sie womöglich in der Lage wären, erneut unmoralisch und unsozial zu handeln. So gesehen fallen auch alle Folgen der Aufklärung und Veröffentlichung genau denen zu, die die veröffentlichten Taten begangen haben. Die Taten sind wesentliche und grundlegende Ursachen ihrer Folgen, auch wenn die Folgen erst durch die Veröffentlichungen der Taten ausgelöst werden. Wäre es anders, so könne jeder Staatsmann Völkerrechtsverbrechen begehen und seine nach internationalem Recht vorgesehene Bestrafung mit dem Argument verhindern, dass damit seine Taten bekannt würden, was zu weiteren unerwünschten Folgen führe.

Notlüge ist es allerdings, wenn Diplomaten sich zum Zwecke von politischen Verhandlungen ein genaues Bild ihrer Verhandlungspartner machen, ohne dies offen erkennen zu geben.
Bedenklich und unmoralisch wird es jedoch, wenn sie dabei ermittelte Schwächen ihrer Gegenüber erpresserisch ausnutzen, um für ihre Partei ungerechtfertigte Vorteile zu erlangen.
Aber auch hier gibt es einen Einwand.
Welcher demokratische Staat hat das Recht, Politiker, die auf Grund ihrer Schwächen erpress- oder manipulierbar sind, in ihre Funktion einzustellen?
Hat der Bürger nicht ein Recht auf integere politische Repräsentation? Hat ein (un)-heimlicher Alkoholiker, eine korrupte Persönlichkeit oder ein unterdurchschnittlich gebildeter Mensch das Recht, die Bürger seines Staates zu vertreten, nur weil er der ‚richtigen‘ Partei angehört und in ihr undefinierten Einfluss auf seine eigene Kandidatur ausüben kann?
Wird er nicht zu Recht durch Veröffentlichung darauf hingewiesen, dass er den Bürger auf Grund seines Charakters nicht repräsentieren kann? Hat nicht der Bürger einen Rechtsanspruch darauf, zu erfahren, wer ihn vertritt, wenn er schon nicht das Recht hatte, ihn in das Amt zu wählen, weil sich dessen Partei dieses Recht vorbehält?
Andererseits gibt es rein private Dinge, wie die sexuelle Orientierung oder Ereignisse aus dem Privatleben, die allzu menschlich sind und keinerlei Einfluss auf die politische Tätigkeiten, jedoch zweifellos ein gewisses Erpressungspotenzial haben. Sie gehören nicht veröffentlicht, so lange das zu negativen Auswirkungen für die Betroffenen führen kann. Es ist schlicht und einzig ihre private Sache, ob sie darüber sprechen wollen oder nicht und beides nutzt und schadet in keinem Falle einem Dritten.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen